Umsetzung des Sozialraumprinzips im BTHG: Wie ist es um ein selbstbestimmtes und sozial eingebundenes Leben für Menschen mit Behinderung im Land Bremen bestellt?

Für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit, für viele schwerbehinderte Menschen lange die Ausnahme: Ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung. Viele Jahre war es üblich, dass vor allem Menschen mit schweren körperlichen, geistigen oder mehrfachen Behinderungen in stationären Einrichtungen und Wohnheimen (heute besondere Wohnformen genannt) lebten. Menschen mit Behinderung wollen ihr Leben jedoch selbst gestalten und selbst entscheiden, wie sie wohnen wollen, etwa in den eigenen vier Wänden, in Wohngemeinschaften oder Wohngruppen, verbunden mit guten Beziehungen zum sozialen Umfeld. Dieses in Verbindung mit Hilfestellungen durch verlässliche und qualitativ hochwertige Pflege, Unterstützungs- und Förderangebote sind die zentralen Wünsche für ein gutes Leben mit Beeinträchtigungen oder schwerer Behinderung.

Tatsächlich haben Menschen mit Behinderungen laut der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auch einen rechtlichen Anspruch, gleichberechtigt die Möglichkeit zu haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo, wie und mit wem sie leben möchten. Dies geht u.a.
aus Artikel 19 UN-BRK hervor, sowie aus den abschließenden Bemerkungen des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderung zum zweiten und dritten periodischen Bericht zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland. Mit der Wahlmöglichkeit, in der eigenen Wohnung, einer Wohngemeinschaft oder Wohngruppe statt in einer besonderen Wohnform (Wohnheim) zu leben, wird gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderung hergestellt – ein wesentlicher Zweck des Bundesteilhabegesetzes (BTHG).

Im vergleichsweise neuen BTHG spielen der Bezug auf den Sozialraum und
Leistungen zur Sozialen Teilhabe eine herausgehobene Rolle. Diese Leistungen sollen dazu beitragen, dass Leistungsberechtigte möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich in ihrem Sozialraum leben können. In den letzten Jahren sind diesbezügliche Bemühungen in Bremen bereits erkennbar, die intensiviert werden müssen. Zur Umsetzung dieses Anspruches werden für das Wohnen von Menschen mit einer geistigen oder einer mehrfachen Behinderung im Land Bremen die Ambulantisierung bestehender stationärer Wohnangebote umgesetzt und vielfältige und bedarfsgerechte alternative neue Angebotsformen aufgebaut.

Im Land Bremen werden inzwischen folgende Wohnangebote für Erwachsene mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung angeboten:
• Ambulant Betreutes Wohnen
• Stationäres Außenwohnen
• Stationäres Wohntraining
• Besondere Wohnformen (ehemals Wohnheime)
• Wohnpflegeheime
Modellhaft erprobt werden folgende ambulante Wohnformen:
• Ambulantes Wohntraining
• Quartierwohnen
Diese Wohnformen reichen von der eigenen Wohnung mit individuell zugeschnittenem Betreuungs- oder Pflegeangebot über Wohngemeinschaften bis zu Wohngruppen mit dauerhaft anwesendem Pflege- und Betreuungspersonal. Bei den Wohntrainings handelt es sich um befristete Maßnahmen, die Unterstützung anbieten beim Übergang von einer stationären Wohnform oder beim Übergang aus der Herkunftsfamilie in z.B. das ambulant Betreute Wohnen.

Trotz dieser begrüßenswerten Entwicklung bedarf es weiterer Anstrengungen zur Schaffung von mehr barrierefreien oder rollstuhlgerechten und bezahlbaren Wohnungen, eines barrierefreien oder -armen Umfelds und unterstützenden Maßnahmen für ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung. Das betrifft neben Menschen mit einer körperlichen oder geistigen auch Menschen mit einer seelischen Behinderung, für die etwa die Wartezeit für Maßnahmen wie ambulantes betreutes Wohnen deutlich zu lang ist, weil das Angebot noch nicht bedarfsdeckend ist.

Der Sozialraum muss im Zuge dessen weiter ausgestaltet und im Kontext der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen verstanden werden. Entsprechend ist es notwendig, die Leitlinien des BTHG und die möglichst im Landesrahmenvertrag vorhandene Strukturierung in entsprechende konkrete Konzepte, Maßnahmen, Pläne und auch Landesgesetze zu übertragen und dann zu operationalisieren.

Ausgehend von der notwendigen Fortschreibung des Landesrahmenvertrages ist es daher erforderlich, entsprechende Rahmenbedingungen festzulegen sowie die verschiedenen Wohnformen – ob in einer besonderen Wohnform, Wohngruppe oder der eigenen Wohnung – bereitzustellen.

Selbstbestimmte Wohnmöglichkeiten in der eigenen Wohnung oder
Wohngemeinschaft bedürfen vielfältiger Unterstützungsangebote, die maßgeblich vor Ort, also in den Quartieren, bereitgehalten werden müssen. Es gilt daher, eine gute Organisation und Steuerung der Angebote vor Ort mit den konkreten individuellen Bedarfen zu vereinbaren.

Die kommunalen Behörden, Sozialleistungsträger, Kranken- und Pflegekassen müssen die quartiersbezogene Sicht- und Handlungsweise, die von den Bedarfen, aber auch von den Wünschen und Zielen der Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen ausgeht, weiter vorantreiben bzw. entwickeln. Hier gilt es, bestehende Veränderungen zu erfragen, Lücken zu identifizieren und Strategien zu entwickeln, um diese zu schließen.

Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat:

1. Hat der Senat Kenntnisse darüber, wie viele Menschen mit einer körperlichen, geistigen, seelischen und mehrfachen Behinderung im Land Bremen leben? Bitte differenziert nach Behinderungstyp und für Bremen und Bremerhaven angeben.
2. Wie viele Plätze für Menschen mit Behinderung gibt es im Land Bremen in den verschiedenen Wohnformen, bitte getrennt für Bremen und Bremerhaven und nach Behinderungstypen angeben:
a. in besonderen Wohnformen (früher Wohnheim),
b. im ambulant betreuten Wohnen in eigener Wohnung,
c. im ambulant betreuten Wohnen in einer Wohngemeinschaft,
d. Quartierswohnen,
e. im stationären Außenwohnen,
f. Wohnpflegeheimen,
g. stationäres Wohntraining,
h. ambulantes Wohntraining?
3. Wie viele geistig und mehrfach behinderte Menschen leben außerhalb besonderer Wohnformen in ambulanten Wohnformen oder in der eigenen Wohnung? Bitte nach Bremen und Bremerhaven differenziert beantworten.
a. Wie hoch ist dieser Anteil im Verhältnis zu Menschen mit geistigen und
mehrfachen Behinderungen, die in besonderen Wohnformen (stationären
Einrichtungen, früher Wohnheim) leben?
b. Wie viele Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen sind in
besonderen Wohnformen außerhalb Bremens untergebracht, bei denen
Bremen Kostenträger ist?
4. Welche Kenntnisse hat der Senat darüber, wie Menschen mit ausschließlich körperlicher Behinderung wohnen?
5. Welche Kenntnisse hat der Senat darüber, wie viele Menschen mit ausschließlich
körperlicher Behinderung im Alter unterhalb des Renteneintritts in SBG-XI-
Einrichtungen, also Pflegeeinrichtungen, leben? Angaben bitte wenn möglich differenzieren nach Altersgruppen 21-35 Jahre, 36-50 Jahre, 51-66 Jahre.
6. Welche Kenntnisse hat der Senat darüber, wie viele Menschen mit ausschließlich schwerer körperlicher Behinderung (damit ist beispielsweise eine schwere Querschnittslähmung, bei der nur noch der Kopf bewegt werden kann; ALS; weit fortgeschrittene Multiple Sklerose uvm. gemeint) außerhalb besonderer Wohnformen in ambulanten Wohnformen oder in der eigenen Wohnung leben? Bitte wenn möglich nach Bremen und Bremerhaven differenziert beantworten.
7. Gibt es Wartelisten für Plätze in ambulanten Wohnformen, wie zum Beispiel dem ambulant betreuten Wohnen in eigener Wohnung, dem ambulant betreuten Wohnen in einer Wohngemeinschaft oder dem Quartierswohnen? Wenn ja, wie lang sind die Wartelisten und wie lang ist die durchschnittliche Wartezeit? (Alle Angaben, wenn möglich, bitte differenzieren nach Angeboten für unterschiedliche Behinderungstypen).
8. Welche Erkenntnisse hat der Senat über den Bestand an barrierefreien Wohnungen
und R-Wohnungen und entsprechender (Um-) Bauprojekte im Land Bremen? Bitte nach
Bremen und Bremerhaven differenziert beantworten.
a. Wie hoch schätzt der Senat den Bedarf ein, um die Leitidee des BTHG zur
Sozialraumorientierung und zum Selbstbestimmungsrecht beim Wohnen in
Form einer Wahlfreiheit zwischen besonderer Wohnform und ambulanter
Wohnform oder eigener Wohnung vollständig abzudecken?
b. Welche Möglichkeiten sieht der Senat, zukünftig weitere Erkenntnisse über den Bestand an barrierefreien Wohnungen und R-Wohnungen auch unter Einbeziehung des privaten Wohnungsmarktes zu erheben?
c. Wie bewertet der Senat die Funktionalität des Suchportals für barrierefreie
Wohnungen im Portal Bremen barrierefrei und welche Möglichkeiten sieht er,
dieses Serviceangebot um private Wohnungsangebote zu erweitern?
9. Wie viele besondere Wohnformen konnten seit Beginn der BTHG-Umsetzung ambulantisiert bzw. zu WGs umgewandelt werden oder sind im Prozess einer Umwandlung, und wie viele Menschen konnten hierdurch in ihrer selbstständigen Lebensführung gestärkt werden? Wie bewertet der Senat den bisherigen Prozess und gibt es konkrete Ziele hinsichtlich weiterer diesbezüglicher Vorhaben für die verbliebenen Einrichtungen? (Bei Angaben bitte auch Unterbringung außerhalb Bremens, bei denen Bremen Kostenträger ist, berücksichtigen).
10. Wie stellt sich die im BTHG vorgesehene Strukturierung zur Sozialräumlichkeit im Landesrahmenvertrag des Landes Bremen bisher konkret dar und wie überträgt sich diese im Hinblick auf die Leistungsvereinbarkeit auf der Einzelfallebene?
11. Welche weiteren Ansätze zur Umsetzung der Sozialraumorientierung im
Landesrahmenvertrag gibt es bereits und inwieweit und mit welchem Zeitplan ist deren Fortschreibung bereits im Prozess oder in Planung?
12. In Form welcher konkreten Maßnahmen, Konzepte und Landesgesetze wird bereits umgesetzt, der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen in Bezug auf die gesetzlich verankerte Sozialraumorientierung des BTHG nachzukommen?
a. Welche Maßnahmen wurden bereits eingeleitet und umgesetzt?
b. Welche Maßnahmen sind bis wann geplant, wann werden diese umgesetzt?
13. Welche Formen von Unterstützungsangeboten gibt es im Land Bremen, um Menschen mit Behinderung ein Wohnen in ambulanten Wohnformen oder der eigenen Wohnung zu ermöglichen? Bitte differenzieren nach Stadt Bremen und Bremerhaven und nach
a. sozialen,
b. therapeutischen,
c. medizinischen und pflegerischen,
d. die Alltagshilfe betreffenden Angebote,
e. die digitale Teilhabe betreffende Angebote.
14. Welche Träger stellen diese Angebote bereit?
15. Gibt es Quartiere in Bremen und Bremerhaven, welche ein besonders gut funktionierendes Netz an nachbarschaftlichen oder auf Quartiersebene entwickelten Unterstützungsangeboten bereithalten für Menschen mit Behinderung, die in der eigenen Wohnung wohnen wollen? Wenn ja, welche Quartiere sind das und in welcher Form wird es umgesetzt?
16. In welcher Form könnte eine regionale Unterstützungs- und Pflegekoordination unter Einbezug aller relevanten Akteur*innen des Sozialraums, der medizinischen Versorgung (z.B. Gesundheitszentren oder Dienstleistungszentren) und entsprechend der Wünsche der Menschen mit Behinderung gestaltet werden?
17. In welcher Form bieten die 17 Dienstleistungszentren in Bremen Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung an, welche anderen Dienstleister*innen für Menschen mit Behinderung gibt es und in welcher Form erfolgt jeweils eine Zusammenarbeit mit den ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungen (EUTB)?
18. Wie bewertet der Senat den Bedarf und die Möglichkeit, die Beratungs- und Serviceleistungen der Dienstleistungszentren im Land Bremen noch stärker auch auf Menschen mit Behinderung, die in der eigenen Wohnung leben wollen, auszurichten?
19. Welche Formen von Teilhabe- und Selbsthilfeangeboten für Menschen mit Behinderung, von Kursen für Angehörige und Zugehörige von Menschen mit Behinderung, die in der eigenen Wohnung leben oder leben wollen, gibt es in den verschiedenen Stadtteilen in den Städten Bremen und Bremerhaven?
20. Wie bewertet der Senat den fachlichen Bedarf und welche Möglichkeiten sieht der Senat, Menschen mit Behinderung sowie deren Angehörigen und Zugehörigen aufsuchende Beratungen vor Ort, auch im eigenen Wohnraum, in den unterschiedlichen Stadtteilen im Land Bremen bereitzustellen? Die Beratung sollte der umfassenden Umsetzung des Wohnens in der eigenen Wohnung dienen und Aspekte wie finanzielle Leistungen der Leistungsträger, der Beantragung der Leistungen, des Zugangs zu Assistenzen und anderem dienen.
21. Bezugnehmend auf die vorangegangene Frage: In welcher Form und in welchem Umfang besteht aktuell die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB), die eine Beratung für Menschen mit Behinderung und deren Angehöriger anbietet?
a. Bieten die EUTB die in Frage 20 angesprochenen Beratungs- und
Unterstützungsbedarfe an bzw. könnten sie diese anbieten?
b. Wenn sie diese anbieten oder anbieten könnten, welcher Bedarf an Ausweitung, finanzieller und personeller Art, der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung besteht?
22. Welche fachlichen Bedarfe und Möglichkeiten sieht der Senat, um Beratungen durch die Pflegestützpunkte und Dienstleistungszentren sowie die Erstellung von individuellen
Gesamt- und Teilhabeplänen durch den Teilhabefachdienst auf Wunsch der Menschen mit Behinderung in deren häuslichem Umfeld durchzuführen?
23. Welche Förderprogramme und welche Beratungsangebote gibt es von Bund, Land und Stadt zum barrierefreien Wohnen und welche Ausweitungsbedarfe und -möglichkeiten sieht der Senat?
24. Welcher Voraussetzungen und Ressourcen bedürfte es, einen allgemeinen oder schwerpunktbezogenen Teilhabebericht über die Lebenslagen behinderter Menschen im Land Bremen einzuführen?

Tim Sültenfuß, Sofia Leonidakis, Nelson Janßen und Fraktion DIE LINKE
Katharina Kähler, Falk Wagner, Mustafa Güngör und Fraktion der SPD
Sahhanim Görgü-Philipp, Dr. Henrike Müller und Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN