Heile Welt Ausbildungsmarkt? – Endlich Transparenz bei den Ausbildungszahlen durchsetzen!
Die Auskunft, wie viele Jugendliche im aktuellen Ausbildungsjahr tatsächlich einen Ausbildungsplatz bekommen konnten, ist eine zentrale Kenngröße für die Beurteilung der Ausbildungslage und der Fortschritte oder Rückschritte auf dem Weg zu einer echten Ausbildungsgarantie. Es ist bekannt, dass die Gegenüberstellung der bei der Arbeitsagentur geführten ‚Bewerber*innen um einen Ausbildungsplatz‘ mit der Zahl der neu zu besetzenden Ausbildungsplätze in mehrfacher Weise irreführend ist; dasselbe gilt für die von der Arbeitsagentur kommunizierte Zahl der ‚unversorgten Bewerber*innen‘.
So sind in der Zahl der ‚Bewerber*innen‘ viele Jugendliche nicht enthalten, die von der Arbeitsagentur als ‚nicht ausbildungsreif‘ eingestuft werden, während ein erheblicher Teil der zu besetzenden Ausbildungsplätze von Jugendlichen aus dem Umland wahrgenommen wird, die in der Zahl der ‚Bewerber*innen‘ gar nicht vorkommen. Die Angabe der ‚unversorgten Bewerber*innen‘ beruht darauf, dass sowohl Jugendliche als ‚versorgt‘ eingestuft werden, die keinen Ausbildungsplatz bekommen und daher in unqualifizierte Arbeitsverhältnisse oder ins Übergangssystem gehen, als auch Jugendliche, die sich frustriert nicht mehr melden (‚Abgänge ohne Angabe von Gründen‘).
Im Endeffekt zeichnen die so von der Arbeitsagentur kommunizierten Zahlen eine heile Welt, die mit der Realität nichts zu tun hat. Nur etwa ein Drittel aller Jugendlichen im Land Bremen, die einen Ausbildungsplatz suchen, bekommt auch einen – während die Arbeitsagentur von einer ‚Versorgungsquote‘ mit Ausbildungsplätzen von 95 Prozent spricht. Auf diese Verzerrung der Darstellung hat auch eine Bremer Schüler*innengruppe immer wieder hingewiesen, die sich seit längerem in einem eigenen Projekt mit dem Thema Ausbildungszahlen beschäftigt. Die taz brachte die Ergebnisse unlängst in einem Bericht über das Schüler*innenprojekt und seine Kritik an den offiziellen Zahlen zum Ausbildungsjahr 2015 auf den Punkt: „207 Jugendliche ohne einen Ausbildungsvertrag – eine erfreulich niedrige Zahl. Das Problem ist nur: Sie stimmt nicht.“
Um die irreführende Kommunikation der Arbeitsagentur durch eine realistische Auskunft über den Ausbildungsmarkt zu ersetzen, hat die Bürgerschaft (Landtag) im Mai 2016 beschlossen, der Senat solle sich für „verbindliche Vereinbarungen für einen transparenten Ausbildungsmarkt“ einsetzen, insbesondere
- „die Zahl der jungen Menschen (…) zu erfassen, die nicht als ‚Bewerber/innen um einen Ausbildungsplatz‘ geführt werden“,
- „wie viele neue Ausbildungsverträge (…) mit jungen Menschen abgeschlossen wurden, die nicht im Land Bremen wohnen“,
- „jährlich die Zahl der jungen Menschen festzuhalten, die nach dem Schulabgang weder in Ausbildung noch in eine weitere schulische Bildung mit dem Ziel eines höheren Schulabschlusses, noch in ein Studium oder in Arbeit eingemündet sind“,
- „diese Zahlen nach Männern und Frauen aufzuschlüsseln“.
Am 2.11.2016 hat die Agentur für Arbeit Bremen-Bremerhaven eine ‚Ausbildungsbilanz für das Jahr 2016‘ für Bremen und Bremerhaven vorgestellt. Diese folgte exakt dem bisherigen, durch den Beschluss der Bürgerschaft kritisierten, intransparenten und irreführenden Muster.
Wir fragen den Senat:
1. Wie viele junge Menschen sind 2016 von den Schulen im Land Bremen abgegangen? Wie viele davon sind eingemündet in a) duale Ausbildung b) fachschulische Ausbildung c) weitere schulische Bildung mit dem Ziel eines höheren Schulabschlusses d) Studium e) Erwerbsarbeit f) keine dieser Alternativen? Bitte nach Männern und Frauen aufschlüsseln.
2. Wie hoch war 2016 die Zahl der jungen Menschen aus den Schulabgangsklassen, die als Ratsuchende der Berufsberatung und/oder der Jobcenter an einem Ausbildungsplatz interessiert waren und die nicht als ‚Bewerber*innen um einen Ausbildungsplatz‘ geführt wurden? Bitte nach Männern und Frauen aufschlüsseln.
3. Nach welchem Verfahren ist die Zahl entstanden, die von der Arbeitsagentur in ihrer ‚Ausbildungsbilanz 2016‘ für Bremen und Bremerhaven als ‚Zahl der Bewerber*innen um einen Ausbildungsplatz‘ genannt wurde?
4. Wie viele Jugendliche, die sich 2016 an die Arbeitsagentur, die Jobcenter oder die Jugendberufsagentur gewandt hatten, wurden nicht als ‚Bewerber*innen um einen Ausbildungsplatz‘ geführt, weil sie als ‚nicht ausbildungsreif‘ eingestuft wurden? Aus welchen Gründen erfolgte dies?
5. In welcher Weise hat der Senat bislang versucht, auf die Arbeitsagentur einzuwirken, um eine transparente Darstellung im Bereich Ratsuchende/offizielle ‚Bewerber*innen‘ zu erreichen? Mit welchem Ergebnis?
6. Wer müsste seine entsprechenden Vorgaben ändern, damit transparent erfasst und dargestellt wird, wie viele Jugendliche sich als Ausbildungsplatzinteressenten an die Arbeitsagentur, die Jobcenter oder die Jugendberufsagentur gewendet haben, wie viele davon als ‚Bewerber*innen um einen Ausbildungsplatz‘ geführt werden, und wie viele als ‚nicht ausbildungsreif‘ eingestuft wurden? Wäre eine Änderung seitens der Jobcenter oder seitens der Bundesagentur erforderlich, und könnte sie auf regionaler Ebene vorgenommen werden, oder wäre eine Änderung auf Bundesebene erforderlich? Wie bewertet der Senat vor diesem Hintergrund die Option einer entsprechenden Bundesratsinitiative?
7. Hat sich an der Anwendung bzw. Handhabung der Kriterien des sogenannten ‚nationalen Pakts für Ausbildung‘ von 2006 durch die Arbeitsagentur, die
Jobcenter und die Jugendberufsagentur im Lande Bremen seit dem Bürgerschaftsbeschluss vom Mai 2016 irgendetwas verändert?
8. Wie viele neue Ausbildungsverträge im Land Bremen wurden 2016 mit jungen Menschen abgeschlossen, die nicht im Land Bremen wohnhaft sind? Bitte aufschlüsseln nach Branchen/Berufsfeldern und nach Männern/Frauen.
9. Auf welchen Informationen beruht die Auskunft darüber, wie viele Ausbildungsverhältnisse mit Jugendlichen eingegangen wurden, die nicht im Land Bremen wohnhaft sind?
10. In welchem Umfang führt nach Kenntnis des Senats der Abschluss eines Ausbildungsvertrags dazu, dass junge Menschen aus dem Umland ihren Wohnsitz nach Bremen oder Bremerhaven verlegen? Werden Jugendliche, die in dieser Weise dem Ausbildungsplatz nachziehen bzw. angeben dies vorzuhaben, bei der Auskunft nach Frage 8 und 9 als Auswärtige eingestuft oder nicht?
11. In welcher Weise hat der Senat bislang versucht, eine transparentere Darstellung der Ausbildungsvertragsabschlüsse mit Auswärtigen/Nichtauswärtigen zu erwirken? Mit welchen Ergebnissen?
12. Wie bewertet der Senat die Perspektive, nach dem Schulabschluss unmittelbar eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, ohne zuvor einen beruflichen Abschluss oder das Abitur zu erwerben?
13. Auf welchen Informationen beruhen die in der Statistik der ‚Bremer Vereinbarungen‘ jeweils enthaltenen Zahlen zum ‚Verbleib der Schulabgänger*innen‘? Wie werden diese Informationen erhoben?
14. Wann liegen diese Informationen jeweils vor?
15. Wie bewertet der Senat die Option, jeweils zum November eine vorläufige Bilanz zum aktuellen Ausbildungsjahr vorzulegen, in der sowohl die Zahlen zum Verbleib der Schulabgänger*innen, als auch die Zahlen zu den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen, die Zahl der Neuverträge mit Jugendlichen die nicht im Land Bremen wohnen, sowie die Zahlen zum Verbleib der bei der Arbeitsagentur geführten Bewerber*innen um einen Ausbildungsplatz bzw. der ‚Ratsuchenden‘ dargestellt werden?
16. Wann wird das Plenum der ‚Bremer Vereinbarungen‘ wieder tagen, und wann wird das entsprechende Zahlenwerk der ‚Bremer Vereinbarungen‘ zum Ausbildungsjahr 2016 vorliegen? Wird dieses dann unverzüglich auch den zuständigen Deputationen und Ausschüssen zur Verfügung gestellt werden?
17. In welchem Umfang rechnet der Senat damit, dass die Darstellungskriterien aus dem Beschluss der Bürgerschaft vom Mai 2016 ‚Entwicklungen auf dem regionalen Ausbildungsmarkt transparent darstellen‘ beim Zahlenwerk der ‚Bremer Vereinbarungen‘ zum Ausbildungsjahr 2016 umgesetzt werden? Mit welchem Zeithorizont wird nach Einschätzung des Senats der genannte Beschluss vollständig umgesetzt werden können?
Miriam Strunge, Kristina Vogt und Fraktion DIE LINKE